Interview: Der Staat als Stalker

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Interview: Der Staat als Stalker

Herr Koidl, wie sieht denn das große Stalking durch Big Data aus und was ist das essentielle Problem dabei? Wirtschaft und Gesellschaft werden sich in den nächsten 10 Jahren grundlegend verändern. Leider hat Europa bei diesem revolutionären Wandel den Anschluss vollständig verschlafen. Längst müssten wir die Fragen der IT-Entwicklung auf gleicher Ebene diskutieren wie die Nuklearstrategie in den 80er Jahren. Finanzmärkte, Zahlungsverkehr, Infrastruktur, Telekommunikation: innerhalb von Sekundenbruchteilen können Angriffe auf unsere Systeme das Leben von Millionen Menschen gravierend beeinflussen, den Alltag lahmlegen, unsere Ökonomie nachhaltig schädigen. Politiker glauben anscheinend immer noch, wir redeten von rausgekotzten Jugendbildern bei Facebook, wenn wir über die Probleme des digitalen Wandels sprechen. Tatsächlich aber haben wir es mit einer realen Cyberwar-Bedrohung zu tun, die unser aller Wohlstand in Europa gefährdet. Daher brauchen wir dringend eine gesamteuropäische Anstrengung, eine eigene europäische IT Industrie. Wir müssen verstehen, dass wir diese Anstrengung staatlich und privatwirtschaftlich, im Sinne eines “Public Private Partnership”, zu leisten haben, wie beispielsweise beim Airbus-Konsortium oder dem Europäischen Raumfahrtprogramm. Es ist unerträglich, dass ein Wirtschaftsraum mit über 500 Mio. Einwohnern keine hinreichende Antwort auf den größten Strukturwandel aller Zeiten hat. Dabei hat in Europa alles begonnen: nicht nur die Erfindung des Computers, auch des WWW selbst. Aus meiner Sicht könnte beispielsweise eine Institution wie das CERN in Genf zum Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Basis einer großen europäische Anstrengung ausgebaut werden. Inwiefern bewirken die Prozesse und Strukturen eine totale Ökonomisierung des Lebens? Welche Folgen könnte diese Entwicklung zum Beispiel auf das Krankenversicherungssystem haben? Kern dieser Prozesse sind die Algorithmen. Problem: die Entwickler sind stolz auf das Herrschaftswissen rund um diese “Handlungsanweisungen”, diese Rechenmodelle. Black Boxes als Daseinsberechtigung einer ganzen Industrie und so schön “technisch kompliziert”, dass der Normalbürger abwinkt und gelangweilt etwas von “Computer sind nicht so mein Ding” faselt. Dabei werden Algorithmen in Zukunft unser aller Leben bestimmen. Ihr Reiz besteht darin, den Einzelnen aus der Masse identifizierbar, schlimmer noch, vorhersagbar zu machen. Und zwar auf Basis der bisher über diese Person gespeicherten Daten. Das kann sehr praktisch sein, weil man Angebote erhält, die auf einen selbst perfekt zugeschnitten sind. Wer Kunde bei Amazon ist, hat eine Ahnung davon, wie das läuft. Man kann es aber auch als Instrument zur Diskriminierung und Ausgrenzung sehen, weil einem nur noch das angeboten wird, was das “System” für sinnvoll oder angebracht hält. Weil man für jenen Datingpartner zu alt, für Kunstbücher bisher kein Interesse oder für eine neue, günstige Krankenversicherung nicht gesund genug ist. Da rächt sich dann, dass wir freiwillig in spielerischen Apps Millionen von Daten preisgegeben haben. Zum Beispiel über diese “Quantified Self” Apps, in denen gemessen wird, wie viel man sich bewegt, was der Blutdruck sagt, wie lange man gestern geschlafen hat, usw. Die Sache wird zum Problem, wenn den Kranken kein oder ein schlechterer Tarif angeboten wird, das System sie also ausgrenzt. Das alles ist aber eben auch möglich in der Diskriminierung von Alter, sexueller oder politischer Orientierung, Herkunft, Religion, usw. Die Anwendung von Algorithmen wird derzeit von jeglicher staatlichen Einflussnahme unreguliert zum ökonomischen Vorteil einzelner Unternehmen massiv ausgebaut. Uns droht eine vollkommen neue Dimension von Willkür. Daraus erwachsen Erpressungspotenziale gegen Millionen von Menschen. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Amazon, Apple, Facebook und Google “Meinungen nach Belieben steuern, ausschließen, desinfo